Life on the Screen (Buchbesprechung): Unterschied zwischen den Versionen
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− | MUD – das ist die Abkürzung für einen | + | MUD – das ist die Abkürzung für einen so genannten „Multi User Dungeon“ – diese virtuellen Orte sind Foren der virtuellen Begegnung. Ihren Namen haben sie von dem Computerspiel „[http://www.wizards.com/default.asp?x=dnd/welcome Dungeons and Dragons]“, das auf einem realen [http://de.wikipedia.org/wiki/Rollenspiel Rollenspiel] beruhte. Anfang der 70er begann die Erfolgsgeschichte dieses Spiels. Ziel des Spiels war es, sich in einem Labyrinth zu Recht zu finden und eine Vielzahl von Rätseln zu lösen. Die MUDs waren Bestandteil des Spiels: Die „Dungeons“ waren Räume, in denen sich die Spieler virtuell begegneten, um zusammen zu arbeiten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Somit entstand eine neue Form von sozialer [http://de.wikipedia.org/wiki/Virtuelle_Realit%C3%A4t virtueller Realität]. Im MUD kann man mit anderen Spielern interagieren, aber auch neue Räume und Objekte erschaffen. Wer im MUD „baut“, der schreibt dort Computerprogramme und fiktive Geschichten. |
Turkle konzentriert sich in ihrem Buch ausschließlich auf die textorientierten MUDs – und auch, wenn die technische Entwicklung heute fortgeschritten ist und es eine Vielzahl teilweise graphisch orientierter Chatplattformen gibt, haben ihre Erkenntnisse auch heute noch Gültigkeit. „You are what you pretend to be – you are what you play“ – das ist für Turkle der hauptsächliche Reiz für die Nutzer: Im MUD kann man im Unterschied zu realen Welt sich selbst immer wieder neu erfinden – und unter Umständen zur gleichen Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere annehmen. Neben den Objekten und Räumen, die man im MUD vorfindet, hat jeder die Möglichkeit, verschiedene Figuren und Rollen (Personae) anzunehmen und sie mit den anderen interagieren zu lassen. Turkle deutet die Wirkung der Anonymität der MUDs teilweise psychoanalytisch: „Ich bin nicht eine Person – ich bin viele“ – so beschreibt es eine Frau, die sie interviewt hat. Turkle berichtet, wie das wirkliche Leben dieser Person eng und unbefriedigend erscheint. Durch die MUDs, sagt Turkle, kann sie alle Aspekte ihres Selbst nebeneinander ausleben – gesellschaftliche Konventionen, Erwartungshaltungen von Freunden und Familie erlauben ihr dieses in der Realität nicht. | Turkle konzentriert sich in ihrem Buch ausschließlich auf die textorientierten MUDs – und auch, wenn die technische Entwicklung heute fortgeschritten ist und es eine Vielzahl teilweise graphisch orientierter Chatplattformen gibt, haben ihre Erkenntnisse auch heute noch Gültigkeit. „You are what you pretend to be – you are what you play“ – das ist für Turkle der hauptsächliche Reiz für die Nutzer: Im MUD kann man im Unterschied zu realen Welt sich selbst immer wieder neu erfinden – und unter Umständen zur gleichen Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere annehmen. Neben den Objekten und Räumen, die man im MUD vorfindet, hat jeder die Möglichkeit, verschiedene Figuren und Rollen (Personae) anzunehmen und sie mit den anderen interagieren zu lassen. Turkle deutet die Wirkung der Anonymität der MUDs teilweise psychoanalytisch: „Ich bin nicht eine Person – ich bin viele“ – so beschreibt es eine Frau, die sie interviewt hat. Turkle berichtet, wie das wirkliche Leben dieser Person eng und unbefriedigend erscheint. Durch die MUDs, sagt Turkle, kann sie alle Aspekte ihres Selbst nebeneinander ausleben – gesellschaftliche Konventionen, Erwartungshaltungen von Freunden und Familie erlauben ihr dieses in der Realität nicht. | ||
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− | [[Sherry Turkle]] führt das Beispiel einer jungen Frau an, die im wirklichen Leben ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hat, was sie sehr belastet. Im Rollenspiel übernimmt die junge Frau die Rolle einer Mutter, die im Verlauf des Spiels in ein Dilemma mit ihrer Tochter gerät: Sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Tochter denunziert, um im Spiel ihr Leben und das ihrer Mitspieler zu retten, da ihre Tochter im Spiel einer rivalisierenden Gruppe angehört. Die junge Frau gibt an, dass dies ihr eindringlichstes Erlebnis in einem Rollenspiel gewesen sei. Letztendlich entscheidet sie sich gegen ihr Team und für ihre Tochter, nachdem sie mit ihrem „Kind“ ein mehrstündiges Gespräch geführt hatte. Solch ein Gespräch hätte sich die junge Frau in ihrem wirklichen Leben auch mit ihrer echten Mutter gewünscht, aber diese ließ dies nicht zu. Im Spiel wurde die Mutter-Tochter-Beziehung zum höchsten Wert der jungen Frau. Das Problem, das sie im wirklichen Leben nicht lösen konnte, wurde in der Simulation mit anderen Rollen quasi „re-inszeniert“. Sie könnte die für sie so belastende Situation | + | [[Sherry Turkle]] führt das Beispiel einer jungen Frau an, die im wirklichen Leben ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hat, was sie sehr belastet. Im Rollenspiel übernimmt die junge Frau die Rolle einer Mutter, die im Verlauf des Spiels in ein Dilemma mit ihrer Tochter gerät: Sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Tochter denunziert, um im Spiel ihr Leben und das ihrer Mitspieler zu retten, da ihre Tochter im Spiel einer rivalisierenden Gruppe angehört. Die junge Frau gibt an, dass dies ihr eindringlichstes Erlebnis in einem Rollenspiel gewesen sei. Letztendlich entscheidet sie sich gegen ihr Team und für ihre Tochter, nachdem sie mit ihrem „Kind“ ein mehrstündiges Gespräch geführt hatte. Solch ein Gespräch hätte sich die junge Frau in ihrem wirklichen Leben auch mit ihrer echten Mutter gewünscht, aber diese ließ dies nicht zu. Im Spiel wurde die Mutter-Tochter-Beziehung zum höchsten Wert der jungen Frau. Das Problem, das sie im wirklichen Leben nicht lösen konnte, wurde in der Simulation mit anderen Rollen quasi „re-inszeniert“. Sie könnte die für sie so belastende Situation noch einmal durchleben und neu analysieren. Turkle deutet das Geschehen als das, was man in der Psychoanalyse „Durcharbeiten“ nennt. Können MUDs die Funktion einer Psychotherapie übernehmen? Im Fall der jungen Frau diente es ihr wenigstens als Möglichkeit ihre persönlichen Probleme und Fragen durchzuarbeiten, was in gewisser Weise therapeutisch war. |
Sherry Turkle führt noch weitere Beispiele an: Ein junger Mann, der sich selbst als unbeliebt, übergewichtig, unsportlich und unattraktiv beschreibt, experimentiert im MUD mit verschiedenen Figuren, die jedoch alle eine Gemeinsamkeit besitzen: Sie haben Merkmale oder Eigenschaften, die er bei sich selbst im wirklichen Leben zu entwickeln versucht oder gerne besitzen möchte. Wenn der psychologische Nutzwert einer Figur erschöpft ist, gibt er sie wieder auf und entwickelt die nächste. Es findet hier ein Übergang zwischen Simulation und RL statt, denn das geschaffene Selbst im MUD dient dazu dieses Selbst auch im RL zu entwickeln. | Sherry Turkle führt noch weitere Beispiele an: Ein junger Mann, der sich selbst als unbeliebt, übergewichtig, unsportlich und unattraktiv beschreibt, experimentiert im MUD mit verschiedenen Figuren, die jedoch alle eine Gemeinsamkeit besitzen: Sie haben Merkmale oder Eigenschaften, die er bei sich selbst im wirklichen Leben zu entwickeln versucht oder gerne besitzen möchte. Wenn der psychologische Nutzwert einer Figur erschöpft ist, gibt er sie wieder auf und entwickelt die nächste. Es findet hier ein Übergang zwischen Simulation und RL statt, denn das geschaffene Selbst im MUD dient dazu dieses Selbst auch im RL zu entwickeln. |
Aktuelle Version vom 29. Juni 2006, 21:47 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Zentrales Thema des Buches
„Life on the Screen“ – wörtlich „Leben auf dem Bildschirm“. Sherry Turkle untersucht in ihrem Buch, wie sich die Allgegenwart der „Simulation“ in unserem modernen Leben auf Vorstellungen, unsere Persönlichkeit und unsere Identität auswirkt. In der Buchbesprechung wird sich dem dritten Teil ihres Buches zugewandt, welcher sich mit einer Form des virtuellen Lebens, nämlich dem Leben im MUD, das Hineinschlüpfen in die verschiedensten Rollen im Internet und dessen Auswirkung auf die Identität beschäftigt. Das Buch besteht zu einem großen Teil aus Interview-Fragmenten, die Turkle mit „Bewohnern“ der virtuellen Welt geführt hat. Die Welt die Turkle dabei besonders interessiert, sind die MUDs.
MUD – was ist das überhaupt?
MUD – das ist die Abkürzung für einen so genannten „Multi User Dungeon“ – diese virtuellen Orte sind Foren der virtuellen Begegnung. Ihren Namen haben sie von dem Computerspiel „Dungeons and Dragons“, das auf einem realen Rollenspiel beruhte. Anfang der 70er begann die Erfolgsgeschichte dieses Spiels. Ziel des Spiels war es, sich in einem Labyrinth zu Recht zu finden und eine Vielzahl von Rätseln zu lösen. Die MUDs waren Bestandteil des Spiels: Die „Dungeons“ waren Räume, in denen sich die Spieler virtuell begegneten, um zusammen zu arbeiten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Somit entstand eine neue Form von sozialer virtueller Realität. Im MUD kann man mit anderen Spielern interagieren, aber auch neue Räume und Objekte erschaffen. Wer im MUD „baut“, der schreibt dort Computerprogramme und fiktive Geschichten.
Turkle konzentriert sich in ihrem Buch ausschließlich auf die textorientierten MUDs – und auch, wenn die technische Entwicklung heute fortgeschritten ist und es eine Vielzahl teilweise graphisch orientierter Chatplattformen gibt, haben ihre Erkenntnisse auch heute noch Gültigkeit. „You are what you pretend to be – you are what you play“ – das ist für Turkle der hauptsächliche Reiz für die Nutzer: Im MUD kann man im Unterschied zu realen Welt sich selbst immer wieder neu erfinden – und unter Umständen zur gleichen Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere annehmen. Neben den Objekten und Räumen, die man im MUD vorfindet, hat jeder die Möglichkeit, verschiedene Figuren und Rollen (Personae) anzunehmen und sie mit den anderen interagieren zu lassen. Turkle deutet die Wirkung der Anonymität der MUDs teilweise psychoanalytisch: „Ich bin nicht eine Person – ich bin viele“ – so beschreibt es eine Frau, die sie interviewt hat. Turkle berichtet, wie das wirkliche Leben dieser Person eng und unbefriedigend erscheint. Durch die MUDs, sagt Turkle, kann sie alle Aspekte ihres Selbst nebeneinander ausleben – gesellschaftliche Konventionen, Erwartungshaltungen von Freunden und Familie erlauben ihr dieses in der Realität nicht.
Der MUD als Ort der Selbstfindung und Selbsterfahrung, Zersplitterung der Identität sowie auch ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten. Im MUD kann man entdecken, wer man ist und wer man vielleicht sein möchte. Somit dient diese virtuelle Welt ein Stück weit der eigenen Identitätskonstruktion. Der Reiz des Spiels liegt aber auch darin, dass man viele persönliche Beziehungen knüpft und weit in die virtuelle Gemeinschaft eintaucht. Für manche Nutzer droht das sogar, zur Sucht zu werden: Zwölf Stunden am Tag im MUD, auch während der Arbeit immer alle Fenster der virtuellen Welten offen zu haben - das ist für viele Spieler keine Seltenheit. Turkle erwähnt einen Artikel der Zeitschrift Newsweek, in dem beschrieben wird wie Spieler einen „Entzug“ versuchen: Eine Möglichkeit bestand darin das Passwort zu ändern, indem man mit dem Kopf auf die Tastatur schlug, so dass man sich nie wieder einloggen konnte.
Im MUD verwischen die Grenzen zwischen Selbst und Spiel, Selbst und Rolle sowie Wirklichkeit und Simulation. MUD-Spieler stellen sich das Leben als ein Gefüge von Fenstern vor, wobei in vielen Fällen das Leben im MUD ein paralleles Leben neben dem „real life“ (RL), eines von vielen „Fenstern“ ist.
Psychologische Effekte im MUD
Sherry Turkle führt das Beispiel einer jungen Frau an, die im wirklichen Leben ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hat, was sie sehr belastet. Im Rollenspiel übernimmt die junge Frau die Rolle einer Mutter, die im Verlauf des Spiels in ein Dilemma mit ihrer Tochter gerät: Sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Tochter denunziert, um im Spiel ihr Leben und das ihrer Mitspieler zu retten, da ihre Tochter im Spiel einer rivalisierenden Gruppe angehört. Die junge Frau gibt an, dass dies ihr eindringlichstes Erlebnis in einem Rollenspiel gewesen sei. Letztendlich entscheidet sie sich gegen ihr Team und für ihre Tochter, nachdem sie mit ihrem „Kind“ ein mehrstündiges Gespräch geführt hatte. Solch ein Gespräch hätte sich die junge Frau in ihrem wirklichen Leben auch mit ihrer echten Mutter gewünscht, aber diese ließ dies nicht zu. Im Spiel wurde die Mutter-Tochter-Beziehung zum höchsten Wert der jungen Frau. Das Problem, das sie im wirklichen Leben nicht lösen konnte, wurde in der Simulation mit anderen Rollen quasi „re-inszeniert“. Sie könnte die für sie so belastende Situation noch einmal durchleben und neu analysieren. Turkle deutet das Geschehen als das, was man in der Psychoanalyse „Durcharbeiten“ nennt. Können MUDs die Funktion einer Psychotherapie übernehmen? Im Fall der jungen Frau diente es ihr wenigstens als Möglichkeit ihre persönlichen Probleme und Fragen durchzuarbeiten, was in gewisser Weise therapeutisch war.
Sherry Turkle führt noch weitere Beispiele an: Ein junger Mann, der sich selbst als unbeliebt, übergewichtig, unsportlich und unattraktiv beschreibt, experimentiert im MUD mit verschiedenen Figuren, die jedoch alle eine Gemeinsamkeit besitzen: Sie haben Merkmale oder Eigenschaften, die er bei sich selbst im wirklichen Leben zu entwickeln versucht oder gerne besitzen möchte. Wenn der psychologische Nutzwert einer Figur erschöpft ist, gibt er sie wieder auf und entwickelt die nächste. Es findet hier ein Übergang zwischen Simulation und RL statt, denn das geschaffene Selbst im MUD dient dazu dieses Selbst auch im RL zu entwickeln. Oft wird im MUD versucht, eine bessere Version der realen Erfahrungen zu inszenieren, die Spieler beschreiben ihr Selbst meist als Kompositum ihrer Figuren und sie bezeichnen ihre Personae als Instrument, um an ihrem RL zu arbeiten.
Ein nicht seltener Fall ist es, sich im MUD Erlebnisse zu verschaffen, die man im realen Leben nicht zu erreichen glaubt. So ist es auch bei Stewart, einem Physikstudenten, dessen Geschichte Sherry Turkle ebenfalls erzählt. In der Realität lebt er sehr zurückgezogen und einsam, arbeitet sehr viel und leidet an Herzbeschwerden. Für Stewart ist der Beweggrund, an MUDs teilzunehmen, dass er dort mit jemandem reden kann. Er verbringt ca. vierzig Stunden in der Woche im MUD – für ihn ist es längst kein Spiel mehr. Dort kann er das vielfältige und abwechslungsreiche Leben erfahren, welches er sich für sein „tatsächliches“ Leben wünschen würde.
Das MUD dient also offenbar auch für Phantasieprojektionen von Dingen, die im wirklichen Leben nicht stattfinden können. Dennoch erlebt Stewart sich weiterhin in der Realität als unattraktiv, gehemmt und unzulänglich. Er beschreibt seine Erfahrungen im MUD gegenüber Sherry Turkle als Zeitverschwendung mit Suchtcharakter und seine Einstellung gegenüber sich selbst blieb negativ. In seinem Fall half das MUD nur zeitweise, die Hindernisse zu überwinden und ihm die Möglichkeit seines idealen Selbst zu verkörpern. Jedoch hatte die Entwicklung der Eigenschaften im MUD bei ihm keinen heilenden Charakter. Die Simulation im MUD kann nach Turkle zum Ausagieren und Aufarbeiten dienen und somit bei psychischen Problemen ansatzweise helfen. Es kann jedoch auch dazu führen, dass man nur noch in der virtuellen Welt lebt und dem Suchtcharakter des Spiels nachgibt.
Geschlechtsrollentausch
Der Geschlechtertausch („Gender Swapping“) spielt in MUDs eine wichtige Rolle. Hier können Frauen Männerrollen und Männer Frauenrollen auf einfache Art und Weise annehmen. Oft benutzen wir die Geschlechterrollen zur Festlegung unserer Beziehungen, da mit dem Geschlecht immer spezielle Erwartungen verbunden sind. Zum Bespiel wird Aggressivität im Zusammenhang mit einem Mann meist als negativ und abstoßend empfunden, während bei einer Frau Aggressivität auch als besonders durchsetzungsfähig, forsch und modern konnotiert ist. Durch den Geschlechtertausch kann man seiner eigenen sozialen Rolle, die einem durch das Geschlecht zugeschrieben ist, entkommen und neue Erfahrungen sammeln. Dies stellt eine neue Bewegungsfreiheit dar, die für viele sehr reizvoll ist. Je nachdem welches Geschlecht man im MUD annimmt, wird man von den Mitspielern unterschiedlich behandelt. Einer Frau zum Beispiel wird man wohl eher Hilfe anbieten als einem Mann, weil Frauen als hilfsbedürftig gelten.
Beim Phänomen des Gender Swapping stellt Turkle jedoch fest, dass dabei jedoch auch Geschlechtsrollenprobleme auftreten. Auf Dauer stellt es sich als sehr schwierig heraus die Fiktion eines anderen Geschlechts aufrechtzuerhalten. Es ist notwendig zu wissen, welchen Einfluss das Geschlecht z.B auf Sprache und Verhalten hat und somit kann „virtueller Transvetismus“ psychologisch relativ kompliziert sein. So beschreibt eine Frau gegenüber Sherry Turkle, dass es Schwerstarbeit gewesen sei, sich in einem Chat-Raum für Schwule aufzuhalten und dabei als Mann durchzugehen. Ihre Motivation für den Geschlechtsrollentausch war, dass sie neugierig war, wie Männer miteinander umgehen, auch in sexueller Hinsicht. Oft hängt der Wunsch die Rolle des anderen Geschlechts anzunehmen mit sexuellen Wünschen zusammen: So wollen viele Teilnehmer einmal TinySex, also virtuellen Sex, in der Rolle des anderen Geschlechts erfahren. Eine positive Deutung der Freiheit, die einem der geschützte Raum des Chats dabei gibt, weist Parallelen zu Shakespeares Stücken auf: In „As you like it“ ist ein solcher Ort etwa der Ardenner Wald: Hier, im pastoralen Idyll, sind alle äußerlichen Gegensätze zwischen den Geschlechtern aufgehoben und die Charaktere schlüpfen in die Rolle des jeweils anderen Geschlechts. Letztlich erfahren sie so sehr viel über sich selbst und ihr Gegenüber und finden zu einem Leben, das frei von Konventionen ist. „Die Welt ist eine Bühne“ – so das berühmte Zitat – und damit auch voller Möglichkeiten, verschiedene Figuren auf dieser Bühne zu spielen.
Virtueller Sex (Tiny Sex)
Für viele Spieler ist ein großer Bestandteil ihres virtuellen Handelns der Tiny Sex. Beim virtuellen Sex tauschen Spieler die Beschreibungen der körperlichen Handlungen und die emotionalen Reaktionen ihrer Figuren darauf aus. Der Reiz am virtuellen Sex teilzunehmen, ist einerseits darin begründet, dass es viel unkomplizierter zu handhaben ist und evtl. weitaus weniger emotionale Verwirrung mit sich bringt als im wirklichen Leben und andererseits auch in der Möglichkeit dass man ein anderes Geschlecht annehmen kann und so zum Beispiel als Mann eine weibliche Figur zu erschaffen, die mit Frauen in sexuellen Kontakt tritt. Beim virtuellen Sex können alle beliebigen Eigenschaften auf den anderen projiziert werden.
Sherry Turkle berichtet an dieser Stelle die Geschichte eines Ehepaares: Der Mann hatte des öfteren Tiny Sex mit seiner Persona im Chat. Die Frau war damit nicht einverstanden, als sie davon erfuhr und bat ihn deshalb, es sein zu lassen, was er auch versprach. Anschließend hatte seine Ehefrau jedoch Ängste, er könnte es heimlich tun und sie wäre nie in der Lage es herauszufinden, so dass es ihr sogar lieber gewesen wäre, er hätte die Affäre im wirklichen Leben gehabt. Daher trafen die beiden die Vereinbarung, er solle ihr einfach nichts davon erzählen, wenn er im MUD sexuelle Begegnungen hat. Seitdem beschäftigt die Ehefrau jedes Mal, wenn ihr Mann am Computer sitzt, die Frage ob er sie gerade betrügt und ob man es überhaupt als Untreue bezeichnen kann, wenn ihr Mann seine Persona mit einer anderen Sex vollzieht. Wie wäre es, wenn sich hinter der anderen Persona ein achtzigjähriger Mann verbirgt, der nur vorgibt, eine Frau zu sein? Wäre sie dann ebenfalls beunruhigt und eifersüchtig? Würde sie dies auch als Untreue ansehen?
Wir sind mit der Frage konfrontiert, was das Wesen von Sexualität und Treue ausmacht. Außerdem stellt sich uns das Problem, ob wir Sex mit jemand anderem haben oder nur unsere erschaffene Persona und inwieweit wir ein Teil dieser sind bzw. inwieweit sie unser Selbst repräsentiert. Sie wird zwar von uns gesteuert, aber ist dies ausreichend, um zu behaupten wir wären untreu? Worin genau liegt der Treuebruch? Geht es hierbei um Körperlichkeit oder emotionaler Nähe zu jemand anderem? Auch durch die Tatsache, dass die physische Anwesenheit der Körper hier völlig ausgeblendet bleibt macht die Frage noch schwerer lösbar als zuvor.
Vergewaltigung im MUD
Neben den beiderseits einvernehmlichen sexuellen Begegnungen im Internet hat Turkle noch eine weitere Art des virtuellen Sex beobachtet: die virtuelle Vergewaltigung. Dies kann stattfinden, wenn es einem Spieler gelingt die Handlungen einer anderen Persona zu steuern, zu manipulieren und sie somit zum Sex zu zwingen. Wenn ein Spieler Gewalt über die Aktionen und Reaktionen anderer Figuren gewinnt, kann er gegen den Wunsch des Mitspielers dessen Figur bzw. dessen Selbst im MUD zu sexuellen Handlungen zwingen, während dieser es vor seinem Computer hilflos feststellen muss was gerade mit seiner Figur, seinem geschaffenen Selbst geschieht.
In einer Diskussion in einem MOO (einer Art von MUDs) zum Thema Vergewaltigung im MUD fragte eine Spielerin: Wo hört der Körper auf und wo beginnt der Geist? Darauf entgegnete eine andere Spielerin, dass Körper und Geist im MUD eins sind. Wenn wir nun annehmen, Vergewaltigung sei ein Verbrechen gegen den Geist, da im MUD der Körper ja nicht anwesend ist, kommt dies dem Standpunkt der Rechtstheoretikerin Catharine MacKinnon nahe, welchen Turkle an dieser Stelle anführt. MacKinnon stellt die These auf, dass Wörter die Gewalttätigkeiten beschreiben, soziale Handlungen darstelllen und daher sollten z.B. pornographische Werke verboten werden, da sie nicht nur Werke allein sind.
Es drängt sich also die Frage auf, ob eine Vergewaltigung im MUD lediglich nur Worte sind oder ob dies eine soziale Handlung darstellt. Eng damit verbunden ist natürlich auch die Fragestellung inwieweit Figuren, denen im MUD nur Worte zur Verfügung stehen, verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden können für das, was sie dort „getan“ haben.
Fazit
Das Buch von Sherry Turkle ist spannend und unterhaltsam zu lesen. Durch die vielen Interviewfragmente und Beispiele wird sehr anschaulich verdeutlicht, wie stark das Internet und die virtuelle Welt Identitäten und auch die Gesellschaft prägen kann. Auch die Dialektik, die dem Internet innewohnt, wird besonders deutlich: Auf der einen Seite ein Ort der Freiheit, ein Ort, der unbegrenzten Möglichkeiten, der die Entfaltung von Charakterfacetten ermöglicht, die die Realität unter Umständen unterdrückt. Andererseits weist Turkle aber auch auf die psychologischen Probleme hin, die das „Doppelleben“ – oder eigentlich schon „Multipelleben“, das einige Nutzer führen, mit sich bringt. Turkles Sprache ist populärwissenschaftlich, auch für Nicht-Computer-Experten verständlich und kommt mit wenigen Fachbegriffen aus. Häufig beschreibt sie die Menschen, die sie interviewt hat, auf so einfühlsame Art und Weise, dass man den Eindruck bekommt, man sehe sie vor sich. Diese feuilletonistische Herangehensweise bringt einem die Welt der MUDs auf kenntnisreiche und teilweise auch humorvolle Art und Weise näher – das Buch ist eine spannende Reise durch die virtuelle Welt, und wirft dabei Fragen auf, die auch dann noch für unser Leben von Bedeutung sein werden, wenn die technische Entwicklung noch wesentlich weiter fortgeschritten ist.